(31. August 2015) Bei psychischen Störungen ist schnelle Hilfe gefragt. Doch die Wartezeiten bei den Therapeuten sind lang. In Deutschland wird jetzt überprüft, wann die Online-Psychotherapie eine Alternative bietet.
Von Sophie Rohrmeier
Hannes Bruehl* weiß, wie schwer der Alltag sein kann. Was für eine große Herausforderung es ist, den Computer einzuschalten. Aufzuschreiben, ob und was man am Tag geschafft hat. Und dann auf den "Senden"-Knopf zu clicken, damit der Therapeut die E-Mail bekommt. "Das ist nicht leicht, wenn man in einer depressiven Phase ist", sagt Bruehl.
Seine Depressionen kehren immer wieder, er hat Familie und Beruf, aber keinen Therapieplatz. Bis er einen der bundesweit raren Plätze in einem Modellprojekt ergattert – für Internettherapie. Das Angebot könnte möglicherweise sehr gut für die Patienten sein. Doch weil es bislang nur wenige Daten über diese Art der Therapie gibt, ist sie unter Experten noch umstritten.
Hannes Bruehls Krankheit bedeutet noch immer ein Stigma, deshalb möchte er seinen richtigen Namen auch nicht öffentlich machen. Aber er will auch etwas gegen die Depression tun. "Selbstbestimmung ist mir wichtig", sagt Hannes Bruehl. An Menschen wie ihn richtet sich das Angebot "net-step": Patienten mit Depression, sozialer Phobie oder Panikstörung. "Net-step" ist ein Experiment am St. Alexius-/ St. Josef-Krankenhaus in Neuss, das von einer wissenschaftlichen Studie begleitet wurde. Gerade erst ist sie abgeschlossen.
Erste Studienergebnisse sind positiv
"Meine Frau sagt, ich falle nicht mehr in so tiefe Löcher wie früher", sagt Bruehl. Die Therapie im Netz habe ihm geholfen, früher gegenzusteuern. "Sogar schwer depressive Patienten haben sich durch unsere Behandlung ganz deutlich verbessert", sagt Therapeut Ulrich Sprick. Er leitet das Ambulante Zentrum der Klinik, an der "net-step" umgesetzt wurde. Die Studie zeigt: Die Heilungschancen seien so gut wie bei einer Verhaltenstherapie von Angesicht zu Angesicht. Im Ausland liegen Sprick zufolge ganz ähnliche Ergebnisse vor.
Mehr als 100 Patienten haben dafür über das Internet eine kognitive Verhaltenstherapie durchlaufen. Dabei geht es darum, unangemessene Wahrnehmungen, Bewertungen und Gedanken, die zu Angst, Ärger und Depression führen, umzugestalten – ohne zu persönlichen Sitzungen zu gehen. Dennoch ist die Behandlung von einem Therapeuten geleitet.
Der Patient lernt seinen Betreuer zu Beginn einmal persönlich kennen, danach stehen sie über Nachrichten in Kontakt. Der Therapeut antwortet innerhalb von 24 Stunden. Das Angebot war der Krankenkasse AOK zufolge bundesweit das erste seiner Art.
Online-Kommunikation fällt vielen leichter
Die Vorteile der Internetpsychotherapie liegen für die Befürworter auf der Hand: Der Patient entscheidet, wann er mit dem Therapeuten in Kontakt ist und wie oft. Auf vorher festgelegte Termine braucht er nicht zu warten, in die Praxis muss er auch nicht. "Eine Patientengruppe, die man nicht vergessen darf, sind Menschen, die über Mails oder SMS Kontakt zu Therapeuten aufnehmen – und sofort klarstellen: Ich komme nicht in die Praxis – aus Scham oder Angst", sagt der Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), Ernst Dietrich Munz. Für sie kann Onlinekommunikation ein Einstieg sein. Und: Im Netz muss der Therapeut nicht sofort antworten, sondern kann überlegen oder mit Kollegen beraten. Eben das ist einer der Gründe, warum der Psychoanalytiker Jürgen Hardt skeptisch ist: Die Hilfe, die der Patient online erhalte, sei nur vermeintlich optimal. "Die Patienten fühlen sich zwar besser verstanden. Die Hilfe kommt wie vom Himmel", sagt der frühere Vorsitzende der Landespsychotherapeutenkammer Hessen. Therapeuten könnten ihre eigene Überforderung verstecken. Fällt der ideale Therapeut weg, so befürchtet Hardt, kann der Patient nicht selbst eine Lösung finden.
Nicht alles lässt sich online therapieren
Über die Erfolge herrscht also Uneinigkeit. "Wir wollen doch gerade Dinge herausfinden, die sich die Person selbst nicht eingesteht", sagt Hardt. Bewusst Geschriebenes reiche nicht für eine Therapie. Depressionspatient Hannes Bruehl hat ähnliche Erfahrungen gemacht. "Bei mir gibt es offenbar Dinge, die tiefer liegen", sagt er. "Aber da ranzukommen, das hat die Internettherapie nicht hergegeben." Er wird auch noch eine Gesprächstherapie machen. Auch aus der Sicht von Onlinebefürworter Spricks kann die Psychotherapie im Netz das persönliche Gespräch nicht komplett ersetzen. Mimik und Gestik nimmt der Therapeut im reinen Mail-Verkehr nicht wahr, auch nicht den Tonfall. Oder das Schweigen. Ist ein Patient nahe dran, sich das Leben zu nehmen – der Therapeut kann es nur schwer erkennen. Computer als Hilfsmittel gegen seelische Störungen wirken auf die Psyche ein – analog zu Arzneimitteln, wie BPtK-Präsident Munz sagt. Doch wer trägt die Verantwortung für mögliche Nebenwirkungen, wenn kein Therapeut die Behandlung begleitet? Das ist ihm zufolge nicht klar.
Juristisch schwieriges Terrain
Auch die konventionelle Form erlaubt keine Kontrolle rund um die Uhr. Aber ohne unmittelbare Signale ist es schwieriger, rechtzeitig einzugreifen. Suizidgefährdete Patienten hat das Team um Sprick deshalb von vornherein ausgeschlossen. Verschlechterte sich der Zustand eines Patienten, konnte er in eine herkömmliche Therapie wechseln.
Manchmal geht gar nichts mehr
Persönlicher Kontakt zum Patienten ist auch eine Bedingung dafür, dass gesetzliche Krankenkassen die Kosten für eine Psychotherapie übernehmen. Onlinetherapie müssen sie nicht bezahlen, können es im Einzelfall aber. Bevor sich die Therapeuten gemeinsam dafür einsetzen, dass Therapien im Netz eine Regelleistung der Kassen werden, sind wohl auch technologische Probleme zu lösen. Sie haben mit der Berufsethik zu tun.
"Reine Internettherapie ohne jeden Kontakt wird nur sehr schwer mit den Berufsordnungen in Einklang zu bringen sein", sagt Martin Stellpflug, BPtK-Justiziar und Medizinrechtler. Ärzte und Therapeuten haben Sorgfaltspflicht. "Bei Onlinetherapien ist nicht gesichert, dass da etwa wirklich die Hausfrau, 40 Jahre, sitzt. Und nicht ein 12-Jähriger." Je weniger Kontakt besteht, desto schwieriger ist die Sorgfalt zu gewährleisten.
"Die Vertraulichkeit ist wegen der Digitalisierung nicht mehr gesichert", sagt Analytiker Hardt. Intime Geheimnisse seien so abhängig von der Digitalindustrie, die Daten vor Hackern nicht geschützt. Auch die gesetzlichen Kassen lehnen dem GKV-Spitzenverband zufolge die Anerkennung von Onlinevideokonferenzen mit Skype oder ähnlichem als psychotherapeutische Technik ab – "da derartige Übertragungswege und Plattformen keine Datensicherheit gewährleisten können".
Und der Patient? "Ich hatte absolut keine Bedenken", sagt Hannes Bruehl. Psychotherapeut Sprick verteidigt sein Modellprojekt "net-step" so gut er kann: Der Austausch laufe über einen passwortgeschützten Server in Deutschland, sagt er, so sicher wie Onlinebanking – und schränkt gleich wieder ein: "100-prozentige Sicherheit gibt es nicht."
*Name von der Redaktion geändert
http://www.welt.de/gesundheit/psychologie/article145789214/Welchen-Patienten-ein-Online-Therapeut-helfen-kann.html