(11. August 2015) Lange Wartelisten, kurze Bandansagen – wer eine Psychotherapie sucht, braucht starke Nerven. Doch wer eine braucht, hat genau diese meist nicht. Das Dilemma der „Volkskrankheiten“. Ein Beitrag on Mira Nagar, shz.de
„Soll ich denn Selbstmord begehen, damit ein Therapie-Platz frei wird?“ Für die 29-jährige Anita W. (Namen aller Patienten geändert) brach nach einem Burnout nach und nach die Welt zusammen. Und es war ein langer Weg für sie, sich Hilfe zu holen. Erst nach Selbstmordversuchen drängten ihre Eltern sie dazu. Diese Zeit sieht sie im Nachhinein als „absolutes Gefühlschaos“. Schließlich haftet mehreren psychischen Erkrankungen – obwohl mittlerweile häufig als „Volkskrankheiten“ bezeichnet – immer noch der Makel der vermeintlichen Schwäche an.
Hanna F., die unter Panikattacken und depressiven Episoden leidet, fasst es in drastischen Worten zusammen: „Ich habe mir selber oft sogar Krebs gewünscht, weil das gesellschaftlich leichter zu verstehen ist. Einem Krebskranken macht niemand einen Vorwurf, dass er faul wäre oder dass er es sich leicht macht. Es ist so traurig.“ Die Mutter von Anita W. erklärte die Krankheit im Bekanntenkreis so: „Anita sitzt psychisch in einem Rollstuhl. Und es bringt nichts, wenn ihr ständig zu ihr sagt, nun lauf doch, steh endlich auf.“
Bei Notfällen: Wer eine akute Selbstmordgefahr sieht oder die Gefahr, andere zu verletzen, sollte eine Klinik aufzusuchen oder den Notruf 112 wählen. Dort erhalten Notfall-Patienten umgehende Hilfe. Die kostenlosen Hotline-Nummern der Telefonseelsorge lauten: 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Die Hilfe ist anonym und unterliegt der Schweigepflicht. Tipps für die Suche nach einem Therapieplatz stehen am Ende dieses Artikels.
Wie viele Menschen sich mit unentdeckten Depressionen durchs Leben schleppen, kann höchstens gemutmaßt werden. Laut einer Bertelsmannstudie von 2014 erhalten drei von vier Patienten in Deutschland, die an einer schweren Depression erkrankt sind, keine angemessene Therapie. Laut dem „Faktencheck Gesundheit“ liegt die Quote der adäquaten Behandlungen in Schleswig-Holstein bei 27 Prozent und damit knapp über dem Bundesdurchschnitt von 26 Prozent.
Hinter den nüchternen Zahlen stehen Einzelschicksale, Menschen, die selbst versuchen, ihr Leben in den Griff zu kriegen und andere, deren eigener Kopf wie ein Gefängnis ist. Und Menschen, die es jahrelang kaum zur Arbeit schaffen, ihren Job verlieren, sich den Tod wünschen. Die Krankheitsbilder sind schwerer vergleichbar als die von Patienten für Meniskusoperationen. Doch eines haben sie gemeinsam: Der Schritt, sich Hilfe zu holen ist für die meisten ein schwieriger. Man sei „in einem Zustand, wo man eigentlich gar nicht in der Lage ist, sich um Hilfe zu kümmern“, sagt Anita W. Doch auch, wenn man den wichtigen Schritt wagt, sich zu öffnen: Auf Hilfe warten viele Erkrankte vergeblich.
Die Suche nach einem Therapieplatz ist langwierig und zermürbend. „Bisher habe ich mindestens sechs Mal die komplette Therapeutenliste der Krankenkasse durchtelefoniert und bekomme immer wieder eine Vertröstung oder Absage schon direkt am Telefon“, so eine Erkrankte. Es ist eine Hängepartie, die im Großen und Ganzen darin besteht, eine Telefonliste möglicher Therapeuten abzutelefonieren. Oft landet man dann bei einer Bandansage, die die knappen Sprechzeiten preisgibt, so berichten Betroffene – und nach mehreren Anläufen schaffe man es schließlich auf eine oder mehrere Wartelisten.
Und wartet.
Psychisch kranke Menschen warten in Deutschland durchschnittlich 12,5 Wochen auf ein erstes Gespräch beim niedergelassenen Psychotherapeuten. Noch länger sind die Wartezeiten in ländlichen Kreisen (14,5 Wochen), so schätzt es die Bundespsychotherapeutenkammer in einem Bericht von 2013 ein. Doch damit hat man noch keine Therapie in der Tasche: Zunächst wird in einer oder mehreren Probesitzungen geprüft, ob Patient und Therapeut überhaupt zusammenpassen. Fachlich und persönlich.
Wie hoch die Chance eines Patienten auf eine angemessene Therapie ist, hängt nicht zuletzt vom Wohnort ab. So ist im Kreis Nordfriesland (18 Prozent) der Anteil der angemessenen Behandlungen nur etwa halb so hoch wie im Kreis Segeberg (34 Prozent), der den besten Wert in Schleswig-Holstein erzielt. Soweit die offiziellen Zahlen.
Die Berichte vieler Betroffener sehen anders aus: „Ich habe über ein Jahr nach einem Therapeuten gesucht. Ich habe sicherlich über 50 bis 60 Therapeuten abtelefoniert“, sagt Marina H. (Name geändert). „Bis nach Kiel und im Umkreis von 30 bis 50 Kilometern um meinen Wohnort in der Nähe von Schleswig und kam bei nicht mal der Hälfte auf die Warteliste.“
Imke Borcherding, die in der Brücke in Flensburg Menschen in seelischen Notlagen berät, sieht das als eine „desolate Situation“. Manche der Hilfesuchenden bräuchten einen Therapieplatz, weil die Brücke-Mitarbeiter nicht allein weiterhelfen können. Doch genau diese Menschen hätten auch oft eine geringere Frustrationstoleranz. Und so fühle es sich auch stets ein wenig bitter an, diesen zu sagen: „Holen Sie sich Hilfe – und haben Sie einen langen Atem.“ Mit einem halben Jahr Wartezeit müsse man rechnen. „Jemanden, der in einer Depression ist, reißt das noch weiter rein“, sagt Borcherding.
Für den Psychologen Jochen Waibel vom Stimmhaus in Hamburg hat das Problem mehrere Ursachen. Eine liege darin, dass viele Psychotherapeuten die Arbeit nicht suchen müssten. „Ich glaube nicht, dass es so gut ist, dass die Psychotherapeuten so satt und zufrieden sind“, sagt er. Die Arbeit gleiche dem öffentlichen Dienst. Diese besteht dann auch nicht nur aus der Behandlung von Patienten, sondern beispielsweise auch darin, psychologische Gutachten zu schreiben. Bei einer Vier-Tage-Woche bleibe dann auch nur Zeit für kurze „Sprechstunden“. Minimal muss ein Psychotherapeut für einen Kassensitz 20 Stunden in der Woche als Therapeut arbeiten.
„Der Bedarf ist ein rechnerischer“, sagt Waibel. Einige Therapeuten arbeiten nicht voll, vor allem wenn sie wegen der Kinder ihre Arbeitszeit zurückgeschraubt haben. Um aber den vollen Kassensitz, falls man wieder mehr arbeiten möchte, zu reservieren, würden sie dies der Kasse nicht melden. So entstehe eine Lücke: Es werden volle Stellen von der Krankenkasse gezählt, wo eigentlich nur Teilzeit-Therapeuten sitzen. Für die Krankenkassen ist der regionale Bedarf an Therapeuten damit abgedeckt. „Die Kassenärztliche Vereinigung sollte kontrollieren, ob Psychotherapeuten tatsächlich einen ganzen oder einen halben Kassensitz haben“, sagt Waibel.
Nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) ist genau dies bereits geschehen. „Wir haben geschaut, ob die Zahl der Abrechnungen tatsächlich mit dem Kassensitz übereinstimmen“, sagt KV-Sprecher Marco Detlefsen. Rechtlich nichts daran auszusetzen, wenn ein Therapeut einen Sitz „besetze“, dennoch habe man die Psychotherapeuten angeschrieben, ob sie nicht einen Teil ihres Platzes räumen würden. Immerhin 20 halbe Kassensitze konnte man so freischaufeln.
Offizielle Zahlen sagen, dass es damit genügend Psychotherapeuten in Schleswig-Holstein gibt. Denn jeder Kreis und jede Stadt erfüllt mehr als 110 Prozent des ermittelten Bedarfs, sagt Detlefsen. Selbst Nordfriesland und Dithmarschen. Das bedeutet soviel wie: Auf dem Papier sind alle Vorgaben übererfüllt und bei der Bedarfsplanung wird der Bezirk gesperrt. Mehr könne die KV nicht tun, es sei eine politische Entscheidung, mehr Kassensitze einzuplanen.
Die Frage ist, woher dieser Bedarf kommt – und ob er nicht ohnehin höher ist, als die Planung vorgibt. Das Soll der Psychotherapeuten wurde 1999 im Gemeinsamen Bundesausschuss ermittelt. Es wurde die durchschnittliche Zahl der niedergelassenen Psychotherapeuten in den Städten und Kreisen errechnet und diese als Höchstgrenze festgesetzt. Dabei wurde auch das damals völlig unterversorgte Ostdeutschland mit einbezogen – und das zog den Durchschnitt herunter. Vor etwa zwei Jahren wurde der Wert ein wenig angepasst. Das bedeutete immerhin 28 neue Plätze in Schleswig-Holstein. Gut 700 Kassensitze für Psychotherapeuten kommen somit aktuell zusammen.
Doch neue Plätze zu schaffen, sei nicht so einfach. Es sei letztendlich auch eine Kostenfrage, sagt Marco Detlefsen von der KV. Das gesamte Gesundheitswesen arbeite mit begrenzten Mitteln. „Wir leben in einer budgetierten Welt“, sagt er. Wenn die Krankenkassen zusätzlich Geld für die Psychotherapie bereitstellen würden, würde dies dann beispielsweise bei den Orthopäden für ihre Meniskusoperationen fehlen. Letztendlich sei dies eine politische Entscheidung. Das Gesundheitsministerium verweist wieder zurück an die KV: Diese können von der Bedarfsplanungs-Richtlinie abweichen, „sofern dies aufgrund regionaler Besonderheiten für eine bedarfsgerechte Versorgung vor Ort nötig ist.“
Doch was bedeuten regionale Abweichungen, wenn das gesamte System flächendeckend unterversorgt ist? Stefanie Kohlhofer - eine der wenigen Patienten, die ihren echten Namen angeben mögen - hat ähnliche Erfahrungen sowohl in Flensburg als auch in Itzehoe gemacht. Seit sie 21 Jahre alt ist, leidet sie unter einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, verursacht durch jahrelange Vergewaltigung bekommen. „Mein Peiniger bekam im Gefängnis Hilfe, Therapien und alles“, sagt sie. „Ich selber stehe da als Opfer völlig alleine da und darf mir von Mitmenschen oft anhören, dass es ja SO schlimm nicht sein kann.“
So war sie jahrelang immer wieder auf der Suche nach Hilfe bei einem Therapeuten, sowohl in Flensburg als auch in Itzehoe. „Dort ist die Wartezeit im Schnitt mit sechs Monaten doch sehr lang, wenn man schnell Hilfe braucht. Und das ist immer der Fall. Denn grade bei psychischen Störungen wartet man oft solange ab, bis es kaum noch geht.“
Ein wenig Erleichterung könnte es aber bald geben: Seit Ende Juli gibt es ein sogenanntes Versorgungsstärkungsgesetz. Um die psychotherapeutische Versorgung zu verbessern, wird der Gemeinsame Bundesausschuss beauftragt, die Psychotherapie-Richtlinie noch einmal zu überarbeiten. Um Wartezeiten auf Facharzttermine zu verkürzen, müssen die Kassenärztlichen Vereinigungen Terminservicestellen außerdem einrichten. Das ist zurzeit in Arbeit. Diese Stellen sollen Versicherten mit einer Überweisung innerhalb von vier Wochen einen Termin bei einem Facharzt vermitteln. Ob das immer gelingt, bleibt anzuwarten.