(30. März 2015) Ein kleiner, unscheinbarer Moment im Alltag: Ein Spaziergang, früher genossen, wird zum mechanischen Abschreiten einer Wegstrecke. Ein Lied, das unser Herz höher schlagen ließ: Nur noch eine Abfolge von Tönen. Wolfgang Blohm, ärztlicher Leiter einer Klinik für Hypnotherapie, verortet hier die gemeinsame Wurzel verschiedenster seelischer Erkrankungen, die den Krankenstand aufgrund psychischer Ursachen in den letzten Jahren haben explodieren lassen. „Lost-Sense-Syndrom“ nennt der Psychotherapeut die anfängliche Selbstentfremdung in seinem neuen Buch „Entschuldigen Sie, wer bin ich?“.
Seine ermutigende Botschaft: Auch in einer beschleunigten Kultur, in der eine schnelle Lösung in Form von Psychopharmaka zur gängigen Praxis gehört, können wir uns als mündige Menschen Inseln des Selbsterlebens zurückerobern, die uns wieder mit unserem Kern verbinden - wenn es gelingt, seelische Botschaften wahrzunehmen und zu beherzigen, bevor sie als Erkrankung Form annehmen. Was sich dabei in seiner therapeutischen Praxis als hilfreich erwiesen hat, bringt Blohm ebenso auf den Punkt wie seine Kritik an einer Medizin, die teilweise das Wohl des Menschen aus dem Blick verloren hat.
Die Zahl der Menschen mit seelischen Erkrankungen hat sich in Deutschland während der letzten zehn Jahre mehr als verdoppelt. Stress ist allgegenwärtig. Und eine Fassade, die einen in allen Lagen souverän erscheinen lässt, gilt vielen in Zeiten der Selbstoptimierung als unverzichtbarer Pluspunkt der eigenen Lebenstauglichkeit. Doch was verbirgt sich dahinter? Wolfgang Blohm ist der Auffassung, dass die am häufigsten diagnostizierten psychischen Krankheitsbilder ein vorgelagertes Stadium vereint, das alle Menschen betrifft: Die Gefahr, den Kontakt zu sich und den eigenen Sinnen zu verlieren. Bemerkbar machen kann sich dies als ein vages Gefühl des Unbehagens und der Fremdheit, das im Trott der zu bewältigenden Alltagsaufgaben rasch beiseitegeschoben wird.
Eine mögliche Folge: Das Entscheiden in eigentlich banalen Situationen gerät zunehmend zu einem komplizierten Konstrukt, das nicht mehr nach Gefühl, sondern nur noch nach Abwägung zahlreicher Argumente vonstattengehen kann. Allmählich verabschiedet sich die altbekannte Sicherheit. Gefühle verblassen. In diesem Stadium der Entwicklung des Lost-Sense-Syndroms treten zunehmend Angstsymptome auf, die neben der Gefühlsebene auch weitere Organbereiche betreffen können.
„Angemessene und wirklich authentische Maßstäbe zur Gestaltung des eigenen Lebens lassen sich nur in der eigenen Mitte zuverlässig finden“, ist Blohm überzeugt. Ist diese nicht mehr zugänglich, kann das zunächst durch immer größere Anstrengungen kompensiert werden. Eine Spirale, die über längere Zeit in Aussichtslosigkeit und Erschöpfung führt. Blohm beschreibt, wie Umwälzungen in Familie, Beruf und Mediennutzung dieser Entwicklung Vorschub leisten: So glänzend und so allgegenwärtig ist die Verheißung eines rundum spaßigen Lebens, dass Langeweile kaum noch tolerierbar ist.
Ewige Leichtigkeit - die Latte hängt hoch. Mit dem Bedürfnis, der vorgegaukelten „Norm“ gerecht zu werden, wächst die Verführbarkeit durch Werbebotschaften, die ein Produkt als Lösung anpreisen. Was bleibt, ist immer wieder die Enttäuschung, dass das eigene Erleben nicht Schritt halten kann mit dem Suggerierten. „Unterschwellig taucht dann immer häufiger das Gefühl auf, zu dieser heilen und lustvollen Welt keinen Zutritt zu haben“, so Blohm. Auch in der Medizin treiben Normen seltsame Blüten: Angehörigen, die nach einem Trauerfall betrübt sind, werden beispielsweise nur noch drei Monate zugestanden - danach greift die Diagnose „Depression“. Mit entsprechender pharmakologischer Behandlung. „Durch die Einnahme werden die Gefühle weiter verfremdet, eine Re-Orientierung kann kaum noch gelingen. Das dient der Industrie, hält den Menschen aber krank“, konstatiert der Mediziner.
Blohms Antwort besteht darin, Gefühle wieder als System der inneren Wahrnehmung wertschätzen zu lernen. Gefühle seien angebunden an das innere Archiv, in dem alle Erlebnisse gespeichert sind: ein ständig wachsendes Reservoir mit schier unbegrenzten Fähigkeiten zur Problemlösung, zur Lebensgestaltung und zur Orientierung. Mit Übungen, die im Buch vorgestellt werden, kann die Gefühlswahrnehmung immer filigraner, das Empfinden auf körperlicher Ebene immer besser in einen Zusammenhang gebracht werden. „Informationen aus der inneren Mitte spüren, nutzen, analysieren, Änderungen planen und einleiten. Das hält gesund“, resümiert Blohm.
Wolfgang Blohm, Entschuldigen Sie, wer bin ich? Wege aus dem Lost-Sense-Syndrom zurück in die eigene Identität, 220 Seiten, Broschur, 17,95 EUR
Verlag J.Kamphausen, ISBN 978-3-89901-900-1
Auch als E-Book erhältlich